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Das Stärken der Stärken: Interview mit Nils Jent und Joachim Schoss

Was kann man tun, um die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt voranzutreiben? Prof. Dr. Nils Jent, Leiter des Centers for Disability and Integration an der Universität St. Gallen, und Joachim Schoss, Gründer und Stiftungsratsvorsitzender von MyHandicap, beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dieser Frage.

Ein Mann hält einen grossen Runden Felsen.  | © unsplash

Nils Jent und Joachim Schoss zeichnen sich durch ihren starken Willen aus. (unsplash)

Herr Jent, trotz schwerer Mehrfachbehinderung haben Sie Ihr Abitur nachgemacht, studiert, promoviert und leiten nun als Professor zwei Forschungsabteilungen. Sehen Sie sich als Ausnahme?

Jent:  Wahrscheinlich schon. Nicht jeder hat eine so gute Konstellation aus Umfeldbedingungen, Glück und persönlichen Wesenseigenschaften, durch die immer wieder Weichenstellungen gefunden wurden, den Weg positiv zu gestalten und weiterzugehen. Nach dem Unfall konnte ich durch mein vollkommenes Eingeschlossensein in meinem bocksteifen, völlig unempfindsamen Körper zunächst nichts mehr. Deshalb war ich vor allem anfänglich darauf angewiesen, dass meine Eltern alles in die Hand nahmen. Später las meine Mutter zum Beispiel den gesamten Lernstoff auf tausende Tonbandkassetten und half mir so, mein Abitur zu machen. Zu jener Zeit waren meine Eltern eine unglaubliche Hilfe. Ohne sie wäre es nicht gegangen. Dass ich hier sitze, ist also Ergebnis eines Zusammenspiels vieler Faktoren, bedingungsloser Arbeitswut und einem starken Miteinander in ganz vielfältigen Zusammensetzungen. Es ist weniger mein alleiniges Verdienst.

Dennoch war Ihre Entwicklung nicht immer leicht. Ein Berufsberater hatte Ihnen zum Beispiel empfohlen, Besenbinder zu werden …

Jent: Stimmt. Ich fand es haarsträubend, dass ein Profi-Berufsberater auf meine Defizite, meine praktisch unbrauchbaren Hände, fokussierte und nicht auf meinen noch recht ordentlich leistungsfähigen Kopf. Daher war es mir wichtig, meinen Weg selbst zu gehen und mich nicht darauf einzulassen, was andere für mich vorsehen. So haben zuerst meine Eltern, später mein Doktorvater und Mentor, Prof. Dr. Martin Hilb und schliesslich die Stiftung EnableMe mit der Schaffung des universitären Forschungscenters für Disability and Integration konsequent auf meine Stärken gesetzt. Meine Behinderung verlangt von allen, inklusive mir selbst, hohe Flexibilität, den Willen, innovative Wege zu gehen und immer wieder gemeinsam nach kreativen Lösungen zu suchen. Die Art meiner Behinderung verlangt auch von mir, dass ich meine Möglichkeiten jeden Tag wieder neu entdecke. Diesen Part kann mir niemand abnehmen.

Herr Schoss, Sie haben 2002 bei einem unverschuldeten Motorradunfall einen Arm und ein Bein verloren. Zwei Jahre später haben Sie dann die Stiftung MyHandicap gegründet. Was war hierfür der Auslöser?

Schoss: Noch im Krankenhaus habe ich angefangen, im Internet zu recherchieren nach Themen, wie Behinderung, Amputation, Prothetik – und es gab schlicht nichts. Im Frühjahr 2003 gab es kein einziges Portal, das einem Informationen geliefert hätte. Völlig verrückt, denn für Menschen ohne Behinderung gab es für fast jede Lebenslage Internetportale. Einzig für die Zielgruppe, für die das Internet wirklich ein Segen ist, sollte es kein Portal geben? Das war für mich ein ganz entscheidender Auslöser, entsprechend aktiv zu werden.

Mit Ihrer Stiftung haben Sie dann unter anderem das CDI (Center for Disability and Integration) an der Universität St. Gallen ermöglicht, das 2009 gegründet wurde. Wie kam es dazu?

Schoss: Wir haben 2004 mit der Stiftungsarbeit begonnen und bald festgestellt, dass es viele Behauptungen und Theorien über Menschen mit Behinderung gibt, aber kaum gefestigte Datenerhebungen. Vor zehn Jahren gab es, zumindest im deutschsprachigen Raum, praktisch keine betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Forschung in dem Sinne, wie es das CDI jetzt tut. Wir haben dieses Forschungszentrum ermöglicht, damit der Frage nachgegangen wird: Wie funktioniert Inklusion in Wirtschaft und Gesellschaft am besten? Und wie kann man Regierungen darin unterstützen, eine möglichst gute Behindertenpolitik zu machen sowie Prozesse zu verhindern, die kontraproduktiv sind.

Wie sieht denn die Zusammenarbeit des CDI und der Stiftung aus?

Schoss: Das Forschungscenter und die Stiftung EnableMe sind klar voneinander getrennt. Weder die Stiftung, noch ich persönlich haben irgendeinen Einfluss auf die Forschung. Diese muss den Qualitätskriterien der Universität St. Gallen folgen. Im Fachrat des CDI haben wir lediglich zwei von acht Stimmen. Die Möglichkeit besteht somit nicht, die Forschungsfelder zu diktieren. Es gibt eine freundschaftliche Kooperation, etwa Beiträge des CDI auf der Website von EnableMe, aber keine Weisungsbefugnis, weder in die eine noch in die andere Richtung.

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Ein Mann hält den Daumen hoch. | © pexels
Zur Einweihung des CDI im November 2009 ist ja auch Bill Clinton nach St. Gallen gekommen. Wie haben Sie ihn erlebt?

Schoss: Bill Clinton ist wirklich eine ganz besondere Persönlichkeit. Man hat das Gefühl, schon kurz bevor er einen Raum betritt, wird es plötzlich still. Und dann ist er selbst als ehemaliger Präsident der USA, und heute sehr stark mit seiner gemeinnützigen Stiftung engagierter Mensch, wirklich bei Ihnen, auch wenn er Ihnen nur fünf Minuten gibt.

Jent: Das kann ich absolut bestätigen. Ich konnte mich mit Bill Clinton nur kurz unterhalten. Was mir aber sofort auffiel, ist seine unglaublich ausstrahlende Energie und seine wahnsinnige Empathie. Es gab nicht einen Moment, in dem ich hätte spüren können, dass Bill Clinton unseren kurzen Austausch nicht auf gleicher Augenhöhe empfand.

Schoss: Im Übrigen hat Bill Clinton in seiner Rede bei der Einweihung einen sehr wahren Satz gesagt: «Sind wir nicht alle in irgendeiner Weise behindert?». Das trifft, glaube ich, genau das, was wir hier machen und worum wir uns bemühen. Hinzu kommt, dass ja im Laufe des Lebens über fünfzig Prozent der Menschen eine schwere Behinderung erfahren. Also, es lohnt sich, unser Sein aus der Perspektive zu betrachten: Jeder hat eigentlich eine Behinderung.   

Dennoch ist die Arbeitslosenquote von Menschen mit «offizieller» Behinderung in Deutschland mit 14 Prozent etwa doppelt so hoch, wie die von Menschen ohne Behinderung. Was tut das CDI, um Arbeitgeber ihre Vorbehalte zu nehmen?

Jent: In der Angewandten Forschung machen wir das mit Sensibilisierung vor Ort. Wir gehen in die Unternehmen, bauen Vorbehalte und Berührungsängste ab, zeigen aus Eigenerfahrung Inklusionsfallen auf, wie sie umschifft werden können und wo überall professionelles Know-how bei der Besetzung, Gestaltung und Finanzierung behinderungskompatibler Arbeitsstellen bezogen werden kann. Wir haben fünf Module entwickelt, nach denen Unternehmen von innen her vom Vorstand bis zur Basis inkludierende Strukturen und Verhaltensweisen aufbauen können. Zentral ist uns dabei der ökonomische, langfristige Nutzenaspekt. Wenn es um die Inklusion von Arbeitskräften mit Behinderung geht, liegt der Fokus heute meist auf den Defiziten. Abgeprüft wird das, was nicht geht und Probleme bereiten könnte. Wir versuchen zu erreichen, dass all das Wert bekommt, was erst möglich ist, gerade weil jemand behindert ist.

Können Menschen mit Behinderung denn auch besonders gute Mitarbeitende sein?

Schoss: Menschen mit Behinderung können ja kompensieren. Ein Mensch, der nicht sieht, hört, sofern keine Hörschädigung vorliegt, viel bewusster und aktiver, als andere. Nils Jent kann in Bewerbungsgesprächen ganz andere Dinge heraushören, als wir das können, einfach weil unser Ohr weniger trainiert ist. Ich kann mit meiner linken Hand wahrscheinlich viel mehr, als die meisten anderen Menschen, weil ich es einfach lernen musste. In Bereichen der Informatik erbringen Menschen mit Asperger-Syndrom besondere Leistungen. So gibt es Einsatzgebiete für Menschen mit Behinderung, in denen sie unter Umständen besser sind als Menschen ohne Behinderung. Ausserdem ist es oftmals so, dass ein Mensch mit Behinderung eine höhere Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber zeigt. Es gibt viele gute Gründe, Menschen mit Behinderung in Arbeitsprozesse zu inkludieren.

Dennoch geschieht dies noch viel zu selten. Welche Rolle spielen dabei Vorurteile und Berührungsängste?

Schoss: Eine grosse Rolle. Was ich erlebe, ist, dass ein Arbeitgeber mal Erfahrung mit Menschen mit Behinderung sammeln muss. Dass er ein Gefühl dafür bekommt, dass ein Mensch im Rollstuhl zwar nicht laufen kann, aber ein Top-Mitarbeiter sein kann. Wenn Arbeitgeber erst mal die Berührungsangst verloren haben, stellen sie vielfach fest, dass hervorragende Leistung erbracht wird und dass man sich mit zwei, drei Adaptionen auf die Behinderung einstellen kann.

Wie wirkt sich Diversity auf das Betriebsklima aus?

Jent: Diversity Management ist ein Managementsystem, das auf Seiten des Personals die Unterschiede zwischen Frau und Mann, zwischen alt und jung, verschiedenen Nationen, oder eben zwischen Mitarbeitern mit und ohne Behinderung so konstruktiv in ein Gleichgewicht bringt, dass alle diese Personalgruppen gut miteinander leben und arbeiten können. Und dass die Arbeitsgemeinschaft nicht auseinanderbricht, wenn mehr «andere» Mitarbeiter dazukommen. Diversity Management hat auf das Betriebsklima also konstruktiven, ausgleichenden Einfluss und eröffnet die Möglichkeit, dass weitere Personalgruppen gleichwertig aufgebaut werden können. 

Schoss: Zur Wirkung von Diversity Management möchte ich eine Anekdote aus der Praxis erzählen: Relativ kurz nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hat mich der Vorstandsvorsitzende eines grossen börsennotierten Unternehmens zu Hause besucht. Bestens gekleidet. Nun ist es mit einer Hand sehr schwierig, ein Baby zu wickeln. Und mein Sohn hatte sich leider die Windeln bis oben hin voll gemacht, meine Frau war nicht zu Hause. Da hat dieser CEO sein Sakko abgelegt, die Ärmel hochgekrempelt und meinen eineinhalbjährigen Sohn gewindelt. Das war einer der besten Momente, die ich mit ihm erlebt habe. Es wäre nicht passiert, wenn ich zwei Hände hätte. Ich könnte mehrere ähnliche Anekdoten erzählen. Wenn Menschen mit Behinderung mit im Team sind, kommt es zu ganz anderen Begegnungen. Ich erlebe sehr viel Rücksichtnahme und sehr viel positive Reaktionen. Es macht das Zusammenleben menschlicher.


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