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Missbrauch in der Pflege: was tun im Falle eines Verdachts?

Nach dem Berner Missbrauchsfall ist der Ruf nach besserer Prävention laut. Wo beginnt ein Übergriff, an wen können sich Betroffene und Angehörige wenden? Wie kann ein Übergriff erkannt werden und wie soll darauf reagiert werden?

Ein Mann schaut nachdenklich aus dem Fenster. | © unsplash

Was tun, wenn der Verdacht auf Missbrauch besteht? (unsplash)

Dass strenge Kontrollen und Vorschriften nötig sind, darüber ist man sich einig. Diese greifen jedoch nur, wenn Pflegepersonal und auch Angehörige selbst beobachten und sich im Falle eines Falles an entsprechende Stellen wenden.

Notfalltelefon 147

Eine erste und allgemein bekannte Anlaufstelle ist das Notfalltelefon 147 von Pro Juventute. Für viele Personen mit Behinderung ist Telefonieren aber kaum möglich. Deshalb ist auch eine Beratung per Chat oder SMS möglich. Die Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung von Jungen und Mädchen Limita hat sich ebenfalls dieser Problematik angenommen und bereits 2005 den Comic «Alles Liebe?» erstellt (erhältlich über Limita), der auch für Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung nachvollziehbar ist und sie aufklärt. Der Comic kann auch als Mittel zur Kommunikation über einen bereits stattgefundenen Missbrauch dienen.  

André Beariswyl, Leiter der In Via-Fachstelle des Kinderschutzzentrums St. Gallen, spricht noch eine weitere Problematik an: «Viele Kinder mit Behinderung, die zum Opfer eines Missbrauch werden, können sich oft kaum oder nur schwer verständlich ausdrücken. Viele Menschen nehmen sie deswegen nicht ernst.» Hinzu kommt, dass viele Menschen mit Beeinträchtigungen ein hohes Bedürfnis nach Körperkontakt zeigten. «Es ist daher wichtig, einen gesunden Umgang mit Sexualität und Intimität sowie eine Ausdrucksform dafür zu finden», so Baeryiswil. Besorgte Angehörige können sich jederzeit an Limita wenden oder auch an das Notfalltelefon 147. Wichtig ist, dass vertraute Personen die Anzeichen ernst nehmen und ihnen nachgehen.

Luxusgut Sexualität

Auch heute noch ist Sexualität von Menschen mit Behinderung ein tabuisiertes Thema in Heimen. Inzwischen wird sie toleriert, aber kontrolliert. Oft entscheiden die Betreuer, wer, was wann und wie oft. Das Ausleben sexueller Bedürfnisse wird von vielen als zweitrangig angesehen. Überspitzt ausgedrückt: Wichtig ist ein Dach über dem Kopf, anständig gekleidet zu sein und etwas zu essen haben. Sexuelle Bedürfnisse kommen erst ganz am Schluss. 

Die permanente Fremdbestimmung begünstigt den Missbrauch. Es ist für die Betroffenen schwer «Nein» zu sagen, denn wie sollen Menschen mit Behinderung, die nie selber bestimmen, was sie anziehen oder essen, sich gegen eine Täterin oder einen Täter wehren, der ihnen sagt, dass die sexuellen Übergriffe richtig sind?  

Aufklärung und Selbstbestimmung

Dennoch spüren auch sie, dass etwas nicht richtig ist. Angehörige können dies beobachten, wenn die Betroffenen aggressiv oder depressiv werden oder plötzlich ein stark sexualisiertes Verhalten zeigen. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein, zum Beispiel, dass die Betroffenen vor jeglichen Berührungen zurückscheuen, oder subtiler: Sie ziehen sich plötzlich anders an, reden anders oder verstummen. Da auch Menschen mit Behinderung ganz verschieden sind, äussert sich auch das Verhalten nach dem Missbrauch ganz unterschiedlich. Generell sollte der Ursache von jedem untypischen Verhalten nachgegangen werden. Es könnte sich um einen Missbrauch handeln, vielleicht ist die Ursache aber auch eine ganz andere. Wichtig ist, dass die Veränderung ernst genommen wird. Denn eine Veränderung ist wahrzunehmen, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen missbraucht werden. 

Wichtig ist, dass Institutionen genau hinschauen und das Personal regelmässig dafür geschult wird, sexuelle Übergriffe zu erkennen. Ausserdem sollen die Heimbewohner trotz aller Tabus besser aufgeklärt werden. Dies sei eine der wichtigsten Präventionsmassnahmen überhaupt, denn fremdbestimmte Personen lassen sich leichter lenken. Doch auch Menschen mit Behinderung, die nicht in Heimen leben, müssen aufgeklärt werden. Missbrauch kann fast überall stattfinden, bei der Arbeit, im Tram oder leider auch zu Hause.

Eine Frau mit verschmiertem Make-Up | © unsplash Anzeichen von Missbrauch sollten immer ernst genommen werden. (unsplash)

Jeder Fall ist speziell

Ein immer gültiges Vorgehensschema gibt es laut dem Amt für Soziales Basel-Stadt nicht. In ihrem Merkblatt «Umgang mit sexueller Gewalt» steht: «Betroffene sind auf die Zuversicht ihrer Vertrauensperson angewiesen, dass Auswege aus der Situation möglich sind. Vermeiden Sie, sich das notwendige Vertrauen zu erkaufen, indem Sie dauernde Verschwiegenheit zusichern, damit Auswege aus der Situation offen bleiben. Lassen Sie sich von einer spezialisierten Fachperson zum Vorgehen beraten.»

Weiter soll auch die Anonymität der betroffenen Person gewahrt werden. Diese schützt sie vor weiteren sozialen und persönlichen Folgen, wie zum Beispiel Ausgrenzung aus der Gruppe. Der Kreis der eingeweihten Personen soll möglichst klein gehalten werden. Ab Seite zwei dieses Merkblattes finden Sie konkretere Anweisungen, wie bei Verdacht und Erhärtung des Verdachts reagiert werden soll, oder auch, wenn der Verdacht (für den Moment) unerklärbar bleibt. Wichtig ist in jedem Fall die Hinzuziehung einer Fachperson. 

Aufmerksamkeit und Mut

Nur weil dieses Thema vielen peinlich ist, darf man es also nicht einfach totschweigen. Die hohe Tabuisierung des Themas schafft ein ideales Klima für die Untrechtsperson. Sie kann sich darauf verlassen, dass aus Schamgefühl nicht genau hingeschaut wird. Heidi Gsell vom kantonalen Amt für Soziales St. Gallen sagt klar: «Es braucht Aufsicht, aber auch mehr Wahrnehmung. Heim-Mitarbeitende und Familien, die hinschauen – auch wenn es unangenehm wird – und handeln.» 


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